Gertrud Nierer lie? ihren Blick über die noch leeren Tische schweifen,

bevor sie sich auf ihren angestammten Platz schr?g gegenüber der Eingangstür

setzte. Die Inhaberin grü?te sie freundlich. Gertrud nickte zurück und studierte

den Speiseplan der Kantine, als h?tte sie das diese Woche nicht schon dreimal

getan. Kurz bevor die Mitarbeiter des Rathauses zur Mittagspause in die Kantine

kamen, stand sie auf, nahm sich ein Tablett und suchte sich ihr Essen aus den

verschiedenen Tellern aus. Gertrud nahm sich Besteck und ging zur Kasse.

"Das Schnitzel war beim letzten Mal sehr zart."

Die Bedienung nickte zerstreut und tippte den Betrag in die Kasse.

"Das macht 4 Euro 45."

Gertrud kramte ihr Portemonnaie heraus und z?hlte umst?ndlich das Geld

ab.

"Ich bin ja froh, dass ich mir das Essen hier noch leisten kann. Die Rente

wird ja auch immer schmaler."

Die Bedienung l?chelte schwach, drückte Gertrud das Wechselgeld in die Hand

und wandte sich dem n?chsten Kunden zu. Gertrud erkannte den jungen Mann vom

Bürgerservice. Er hie? Andre und hatte eine Freundin in der

Personalabteilung.

Gertrud setzte sich an ihren Platz zurück und beobachtete wie die anderen

Mitarbeiter des Bürgerservice sich an den gro?en Tisch neben ihr setzten.

Gertrud h?rte, wie sie sich über die neuesten Themen aus der

Abteilungsleiterbesprechung austauschten.

"Herr Marten hat gesagt, sie kürzen im n?chsten Jahr die

Haushaltsmittel."

"Hat Maria jetzt eigentlich eine Vertragverl?ngerung bekommen?"

"So wie sie heute Morgen aussah, als sie vom Damenklo kam, glaube ich das

nicht."

"Was macht eigentlich ihr Mann? Hat er wieder Arbeit gefunden?"

Gertrud verfolgte das Gespr?ch, w?hrend sie langsam weiter a?. Maria

arbeitete auch beim Bürgerservice. Sie war eine schüchterne dunkelhaarige Polin,

die seit mehr als drei Jahren auf immer wieder neuen Zeitvertr?gen in anderen

Dezernaten arbeitete. Gertrud empfand Mitleid mit der Frau, sollte sie

tats?chlich ihre Arbeit verlieren.

Als n?chstes kamen die Mitarbeiter aus dem Bereich der Ver- und Entsorgung.

Sie nahmen wie jeden Mittag an dem gro?en Tisch in der Ecke unmittelbar neben

der Eingangstür zum Rathaus Platz. Sie unterhielten sich lautstark über die

geplanten Kürzungen im Bereich der Müllentsorgung.

Gertrud lauschte ihnen eine Weile, dann begann sie sich zu fragen, ob es

denn an diesem dreiundzwanzigsten Dezember denn niemanden gab, der in

Weihnachtsstimmung war. Die Menschen um sie herum hatten Angst um ihre

Arbeitspl?tze, Stress beim Feiertagseinkauf und Sorgen um ihre Kinder.

Zur Tür herein kamen nach und nach vier weitere Rentner, die wie Gertrud

regelm??ig in der Kantine des Rathauses zu Mittag a?en. Sie suchten sich

einzelne Pl?tze und lauschten den Gespr?chen. Gertrud atmete tief durch und sah

sich um. Für sie waren die Mitarbeiter des Rathauses mehr als nur Menschen, die

in derselben Kantine a?en. Sie kannte jeden von ihnen mit Namen, wusste Bescheid

über ihre Familien und kannte die Meinung ihrer Kollegen.

Die Menschen in der Rathauskantine waren ihre Familie.